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nen wurde fast zu einem Gähnkrampf, meine Mundmuskulatur knackte. Die Tatsache, daß Genneholm schwul ist, ändert nichts an der Tatsache, daß sein Name Langeweile in mir auslöst. Schwule können sehr amüsant sein, aber gerade amüsante Leute finde ich langweilig, besonders Exzentriker, und Genneholm war nicht nur schwul, auch exzentrisch. Er kam meistens zu den Parties, die Mutter gab, und rückte einem immer ziemlich nah auf den Leib, so daß man jedesmal vollkommen überflüssigerweise seinen Atem roch und an seiner letzten Mahlzeit teilnahm. Als ich ihn zum letzten Mal traf, vor vier Jahren, hatte er nach Kartoffelsalat gerochen, und angesichts dieses Geruchs kamen mir seine kardinalsrote Weste und sein honigfarbener Mephistoschnurrbart gar nicht mehr extravagant vor. Er war sehr witzig, jedermann wußte, daß er witzig war, und so mußte er dauernd witzig sein. Eine ermüdende Existenz.

»Entschuldige«, sagte ich, als ich sicher sein konnte, den Gähnkrampf vorläufig hinter mir zu haben. »Was sagt denn Genneholm?«

Mein Vater war gekränkt. Das ist er immer, wenn man sich gehen läßt, und mein Gähnen schmerzte ihn nicht subjektiv, sondern objektiv. Er schüttelte den Kopf wie über meine Bohnensuppe. »Genneholm beobachtet deine Entwicklung mit großem Interesse, er ist dir sehr wohlgesinnt.«

»Ein Schwuler gibt die Hoffnung nie auf«, sagte ich, »das ist ein zähes Volk.«


»Laß das«, sagte mein Vater scharf, »sei froh, daß du einen so einflußreichen und fachmännischen Gönner im Hintergrund hast.«

»Ich bin ja ganz glücklich«, sagte ich.


»Aber er hat enorm viele Einwände gegen das, was du bisher geleistet hast. Er meint, du solltest alles Pierrotische meiden, hättest zum Harlekin zwar Begabung, wärest aber zu schade - und als Clown wärst du unmöglich. Er sieht deine Chance in einer

konsequenten Hinwendung zur Pantomime

... hörst du mir überhaupt zu?« Seine Stimme wurde immer schärfer.


»Bitte«, sagte ich, »ich höre jedes Wort, jedes einzelne dieser klugen, zutreffenden Wörter, laß dich nicht dadurch stören, daß ich die Augen geschlossen habe.« Während er Genneholm zitierte, hatte ich die Augen geschlossen. Es war so wohltuend und befreite mich vom Anblick der dunkelbraunen Kommode, die hinter Vater an der Wand stand. Ein scheußliches Möbelstück, das irgendwie nach Schule aussah: die dunkelbraune Farbe, die schwarzen Knöpfe, die hellgelbe Zierleiste an der oberen Kante. Die Kommode stammte aus Maries Elternhaus.

»Bitte«, sagte ich leise, »sprich doch weiter.« Ich war todmüde, hatte Magenschmerzen, Kopfschmerzen, und ich stand so verkrampft da hinter dem Sessel, daß mein Knie anfing, noch mehr anzuschwellen. Hinter meinen geschlossenen Lidern sah ich mein Gesicht, wie ich es von tausend Trainingsstunden aus dem Spiegel kannte, vollkommen unbewegt, schneeweiß geschminkt, nicht einmal die Wimpern bewegten sich, auch nicht die Brauen, nur die Augen, langsam bewegte ich sie hin und her wie ein banges Kaninchen, um jene Wirkung zu erzielen, die Kritiker wie Genneholm »diese erstaunliche Fähigkeit, animalische Melancholie dar- zustellen«, genannt hatten. Ich war tot und auf tausend Stunden mit meinem Gesicht eingesperrt - keine Möglichkeit, mich in Maries Augen zu retten.

»Sprich doch«, sagte ich.


»Er riet mir, dich zu einem der besten Lehrer zu schicken. Für ein Jahr, für zwei, für ein halbes. Genneholm meint, du müßtest dich konzentrieren, studieren, soviel Bewußtheit erreichen, daß du wieder naiv werden kannst. Und Training, Training, Training - und, hörst du noch?« Seine Stimme klang Gottseidank milder.

»Ja«, sagte ich.


»Und ich bin bereit, dir das zu finanzieren.«


Ich hatte das Gefühl, als wäre mein Knie so dick und rund

wie ein Gasometer. Ohne die Augen zu öffnen, tastete ich mich um den Sessel herum, setzte mich, tastete nach den Zigaretten auf dem Tisch wie ein Blinder. Mein Vater stieß einen Schreckensruf aus. Ich kann einen Blinden so gut spielen, daß man glaubt, ich wäre blind. Ich kam mir auch blind vor, vielleicht würde ich blind bleiben. Ich spielte nicht den Blinden, sondern den soeben Erblindeten, und als ich die Zi- garette endlich im Mund hatte, spürte ich die Flamme von Vaters Feuerzeug, spürte auch, wie heftig sie zitterte.

»Junge«, sagte er ängstlich, »bist du krank?«


»Ja«, sagte ich leise, zog an der Zigarette, inhalierte tief, »ich bin todkrank, aber nicht blind. Magenschmerzen, Kopfschmerzen, Knieschmerzen, eine üppig wuchernde Melancholie - aber das schlimmste ist, ich weiß genau, daß Genneholm recht hat, zu ungefähr fünfundneunzig Prozent, und ich weiß sogar, was er weiter gesagt hat. Hat er von Kleist gesprochen?«

»Ja«, sagte mein Vater.


»Hat er gesagt, ich müßte meine Seele erst verlieren?— ganz leer sein, dann könnte ich mir wieder eine leisten. Hat er das gesagt?«

»Ja«, sagte mein Vater, »woher weißt du das ?«


»Mein Gott«, sagte ich, »ich kenne doch seine Theorien und weiß, woher er sie hat. Aber ich will meine Seele nicht verlieren, ich will sie wiederhaben.«

»Du hast sie verloren?«